Storytelling betreiben oder grüne Geschichte schreiben
- Autorin: Anneke Bokern
- Fotos: Max Hart Nibbrig
Viele Architekten beherrschen Storytelling. Doch genügt das als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklungsgeschichte? Dazu gehört mehr, als nur Geschichten zu erzählen. Mit „Stories“ hat das Büro Olaf Gipser Architects, nur einen Katzensprung von der Amsterdamer Innenstadt entfernt, einen 13-geschossigen Holzhybridbau mit begrünter Fassade geschaffen und damit einen ehrlichen Ansatz geliefert, an den es anzuknüpfen gilt.

Im Norden von Amsterdam, wo der Ridderspoorweg das Amsterdamer Hafenbecken des Johan van Hasseltkanal überquert, ragt Stories sechsundvierzig Meter in die Höhe. Ursprünglich siedelten sich im Hafen- und Industriegebiet Buiksloterham Produktionsstätten von Unternehmen wie den Fokker Flugzeugwerken oder dem Kraftstoffkonzern Shell an. Da im Laufe der Zeit immer mehr Betriebe abwanderten und gleichzeitig der Wohnraumbedarf in Amsterdam wuchs, begann vor etwa fünfzehn Jahren die Transformation der Gegend zum Wohnquartier, in dem auch nichtindustriell gearbeitet wird.
Der niederländischen Raumplanungstradition folgend, hätte die Stadt ein solches Gebiet typischerweise in einem Rutsch neu entwickelt. Angesichts der damals herrschenden Wirtschaftskrise entschied sich die Verwaltung von Amsterdam jedoch für eine gemächlichere Umwandlungsstrategie. Seit 2011 werden die Parzellen, zum Teil mit stark verunreinigtem Boden, zur Bebauung freigegeben, um aus dem Gewerbegebiet bis 2030 ein Vorzeigeviertel für nachhaltige Stadtenwicklung zu machen. Noch präsentiert sich Buiksloterham aber als spannendes Mischgebiet, in dem Baugruppenprojekte und Nullenergiehäuser Leerstellen zwischen Logistikbetrieben und Baumärkten füllen.
Städtische Ausschreibung an Baugruppen
Ein solches nachhaltiges Projekt verwirklichte Olaf Gipser Architects mit Stories. 2015 erhielt das Büro bei einer städtischen, und an Baugruppen gerichteten Ausschreibung den Zuschlag. Vorgabe war, den Bau mit Materialien auszuführen, die möglichst in geschlossenen Stoffkreisläufen funktionieren. Gipsers Baugruppe erwog ein Vollholzhochhaus, ein Wagnis, das damals sehr hoch erschien. Die geforderte Einstellhalle für vierzig Autos brachten sie dann doch in dem dreigeschossigen Sockel aus Fertigbetonteilen unter.


Von Stahl umhülltes Holz
Auf diesem Sockel steht der 32,5 Meter hohe Turm aus Brettschichtholz und Betonerschließungskern. Dass die zehn Wohnetagen in Holzbauweise errichtet wurden, ist nicht sofort ersichtlich, da das weiße Stahlgerüst, das den gesamten Bau filigran umhüllt, und die jungen, darin emporwachsenen Bäume, zuerst in den Blick fallen. Auch im Eingangsbereich des Gebäudes und in den Hausfluren ist wenig Holz zu sehen. Unübersehbar ist es, wenn man eine der lichtdurchfluteten Wohnungen betritt. Sie sind zwischen 43 und 235 Quadratmeter groß und haben eine Deckenhöhe von 2,90 Metern. Drei Loftwohnungen – eine im Sockelgeschoss, eine im siebten und eine im elften Stock – sind doppelt so hoch.

1,2 Tonnen ausgelegt. Foto: Luuk Kramer
Insgesamt befinden sich in dem Gebäude neunundzwanzig für die Mitglieder der Baugruppe gestaltete Wohnungen und sechs Gewerbeeinheiten. Pro Geschoss bilden fünfzehn tragende, 160 bis 240 Millimeter starke Holzelemente ein Raster mit einem Achsmaß von 4,80 Metern. Ihre großen Öffnungen lassen flexible Einteilungen mit bis zu sechs Wohnungen pro Geschoss zu. Um auf sich ändernde Wünsche an die Wohnungsgrundrisse reagieren zu können, wurden mehr Türöffnungen als derzeit notwendig in den Korridorwänden angelegt. Flexibilität war der Baugruppe und Olaf Gipser sehr wichtig. Der aus der Schweiz stammende, aber schon seit über zwanzig Jahren in Amsterdam lebende Architekt gehört zu einem Netzwerk von jungen Büros, die gemeinsam ein niederländisches Open-Building-Manifest veröffentlicht haben. Gebäude, die in Hinblick auf zukünftige Funktionswandel anpassungsfähig sind, sehen sie als unerlässlichen Bestandteil von Nachhaltigkeit.

Allerdings unterlag bei Stories die Flexibilität bis zu einem gewissen Grad der Akustik – die Wohnungstrennwände sind zugunsten des Schall- und Brandschutzes mit Gipskartonplatten verkleidet. Damit die Holzkonstruktion im Wohnbereich deutlich bleibt, wurden die Deckenelemente auf Abbrand berechnet und ihre Unterseite in Sicht gelassen. Auf der Oberseite der Deckenelemente sind die in Schaumbeton gebetteten Leitungen nur mit größerem Aufwand zugänglich.
Lichte Gestalt am Meeresarm
Die Holzskelettbauelemente wurden mit Wärmedämmung und bodentiefen Holzrahmenfenstern vorgefertigt geliefert. Die vorgegrauten mit Brandschutzmittel versehenen Fichtenholzlatten sind hitzebehandelt und die Fassaden so vor dem Nordseeklima geschützt. Das vorgesetzte, zwei Meter tiefe Stahlregal mit paarweise gestapelten Balkons grenzt die Privatwohnungen durch sechs Meter hohe Pflanznischen, in denen Bäume, Sträucher, Kräuter und Gräser wachsen, voneinander ab. Auf der Nordseite ist das Regal nur 1,50 Meter tief und mit Kletterpflanzen berankt. Die begrünten Fassaden sollen nicht nur als Außenraum, als Sicht- und Sonnenschutz und Feinstofffilter fungieren, sondern auch Insekten und Vögel einen Lebensraum bieten.


Von den Wohnungen aus betrachtet, präsentieren sich die Grünnischen tatsächlich als kleine, schwebende Gärten. Zur Das unterste Geschoss des Betonsockels ist größer als der Grundriss des Turmes. So entstand auf der dem Wasser zugewandten Seite des Baus eine Gemeinschaftsterrasse, auf der nachbarschaftliches Urban Farming betrieben wird. Das Projekt ist in vielerlei Hinsicht repräsentativ für die niederländische Herangehensweise an Nachhaltigkeit, die wenig Raum für Dogmatismus, aber dafür viel Platz für Innovation lässt. Es ist weder ein konsequenter Holzbau, noch ist die Einteilung komplett flexibel – und das war auch nicht der Anspruch. Vielmehr geht es darum, Experimente zu ermöglichen und daraus zu lernen. „Beim nächsten Projekt kann man die Erfahrungen dann schon in die Konzeptphase einbringen“, sagt Olaf Gipser.
Im Interview mit Anneke Bokern:
Olaf Gipser über die Hürden und Weichenstellungen von Stories

Stories ist ein Baugruppenprojekt, das aus einer städtischen Ausschreibung hervorging. Wie muss man sich diesen Vergabeprozess vorstellen?
Als das Grundstück 2015 auf den Markt kam, haben wir gemeinsam mit dem Bauunternehmen Heutink eine Informationsveranstaltung organisiert, um Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu finden. Einige der Besucher bekundeten ein ernsthaftes Interesse. Gemeinsam mit ihnen haben wir dann die Bewerbung ausgearbeitet. Dafür mussten wir vor allem Fragen zur geplanten Vorgehensweise beantworten: Wie organisieren wir die Baugruppe intern? Wie laufen Entscheidungsprozesse ab? Welche Maßnahmen sehen wir hinsichtlich der Nachhaltigkeit vor? Danach gab es mit der Stadt und drei Vertretern unserer Baugruppe Bewerbungsgespräche. Sie wurden, zusammen mit der schriftlichen Einreichung, nach Punkten bewertet. Die architektonische Gestaltung war dabei gar kein Kriterium. Am Ende lagen wir punktegleich mit einer anderen Baugruppe, deshalb wurde gelost. Wir hatten Glück und gewannen.
Die Baugruppe für Stories zählte neunundzwanzig Parteien. Gab es da nicht viel Uneinigkeit?
Um den Entscheidungsprozess zu vereinfachen, haben wir erst mit einer Kerngruppe aus etwa zwölf Beteiligten gearbeitet. Als der Entwurf in großen Zügen stand, kamen die anderen Mitglieder der Baugruppe hinzu. Sie mussten einen etwas höheren Einstiegspreis zahlen und konnten noch die Gestaltung ihrer privaten Bereiche beeinflussen. Die finanzielle Verantwortung, die Vorfinanzierung für das Projekt hat übrigens der Bauunternehmer getragen. Wir hatten keinen Vertrag mit der Baugruppe, sondern mit Heutink.

sind in Holzskelettbauweise errichtet.

War das Gebäude von Anfang an als Holzhybridbau geplant?
Das haben wir gleich zu Beginn vorgeschlagen. Holzbau war damals in den Niederlanden noch ganz neu. 2015 hatte das Büro Frantzen et al architecten mit „Patch 22“ auf einem benachbarten Grundstück den ersten achtgeschossigen Holzhybridbau in den Niederlanden fertiggestellt, der viel Medienaufmerksamkeit bekam. Es lag aber auch an meiner Verbindung zur Schweiz: Dort hatten schon Mitte der 1990er-Jahre die ersten Büros angefangen, mit Holzbauelementen zu arbeiten. Brettschichtholz, also eigentlich Plattenbau aus Holz, passte dort in den tektonischen Diskurs. Ich habe das immer sehr interessiert verfolgt. Ähnliches gilt für die Begrünung. Das Thema der kuratierten Natur interessiert mich schon lange, damit habe ich auch schon bei früheren Projekten gearbeitet. Wir haben gleich am Anfang die Idee des Grüns eingebracht, aber welche Form das genau annehmen sollte, war noch unklar. Zuerst planten wir eine Pufferzone rund um das Gebäude im Stil von Lacaton Vasall. In unseren ersten Entwürfen war die Fassade komplett verglast. Das ließen aber die niederländischen Bauregeln nicht zu, denen zufolge ein Außenraum sehr gut durchlüftet sein muss. So entstand das offene Regal. Als uns klar wurde, dass jede Pflanznische ein Gewicht von 1200 Kilogramm tragen müsste, kam nur noch eine selbsttragende Stahlkonstruktion in Frage.
Wie verträgt sich die Stahlkonstruktion mit den Nachhaltigkeitsansprüchen des Projekts und des gesamten Gebiets Buiksloterham?
Natürlich wirkt sie sich negativ auf die CO2-Bilanz aus. Aber Nachhaltigkeit ist eben ein vielschichtiges Thema, an manchen Stellen widersprechen sich die Ambitionen. Mir war die Biodiversität sehr wichtig. In niederländischen Städten ist die Artenvielfalt inzwischen größer als auf dem Land. Damit ist die Verdichtung der Städte eigentlich eine Verdichtung von Mensch und Natur. Ich frage mich, ob man eine postanthropozentrische Architektur entwickeln kann. Wie könnte sie aussehen? Was würde sie beinhalten?
Die Wohnungen haben flexible Grundrisse, aber die Einteilung der Geschosse ist durch das vorgegebene Raster der Holzwände nicht komplett frei. Inwiefern kann man von Open Building sprechen?
Es steckt schon das Bewusstsein im Projekt, dass Funktionen nicht gebunden sein sollten und dass das Wohnen multifunktionaler gestaltet werden muss. Räumlich und konstruktiv ist das Gebäude dank der in die Holzwände eingefügten großen Öffnungen sehr flexibel. Über der Ausarbeitung schwebte aber die ganze Zeit die Akustik wie ein Damoklesschwert. Deshalb gibt es die Masseschicht aus Schaumbeton auf den Böden, die einiges festlegt. Ich muss also in aller Ehrlichkeit sagen: Bestimmte Lösungen sind für die heutigen Grundrisse gemacht. Man kann das verändern, aber dann muss auf die Akustik Acht gegeben werden. Unsere Priorität war, mit Holzbau zu experimentieren, erst in zweiter Linie ging es um flexible Grundrisse.
Holzhybridbau Stories, Olaf Gipser Architects
Architekten
Olaf Gipser Architects
Pedro de Medinalaan 7G, 1086 XK Amsterdam
Olaf Gipser Architects ist ein Architekturbüro aus Amsterdam mit Fokus auf soziale Produktion des Raumes, Intervention in ökologische Beziehungen und Produktion von Gebäuden als materielle, kulturelle Artefakte.
Projekte (Auswahl)
2022 Hybrider Holzbauwohnbau für eine Baugruppe Stories, Amsterdam
2020 Multifunktionaler Wohnbau New West, Amsterdam
2020 Veluwe Besucherzentrum‚t Leesten, Apeldoorn
2015 Wohnbau für eine Baugruppe Amstel C1, Amsterdam