Vier Quader und ein Dach
- Autor: Wolfgang Kabisch
- Fotos: Daniel Sumesgutner
Genau dort, wo man sich auf dem Weg an die Côte d’Azur im Auto entscheiden muss, ob man geradeaus nach Marseille oder linksherum über Aix-en-Provence fahren sollte, liegt Coudoux. Ein winziger Ort mit nicht einmal 4.000 Einwohnern. Allerdings mit einer funktionierenden Infrastruktur, die das tägliche Leben einfach macht. Mit einer Bäckerei zum Beispiel, sowie einer lokalen Wein- und Olivenproduktion.
Hier, am Rand eines vor ein paar Jahren verwaltungstechnisch neu geordneten großen Ballungsgebiets lässt es sich sicher gut leben. Man gehört jetzt einerseits zur „Métropole d’Aix-Marseille- Provence“ und ist gleichzeitig von Natur umgeben. Für an ökologischem Bauen interessierte Passanten gibt es seit diesem Frühjahr einen weiteren Grund, etwas genauer auf Coudoux zu schauen: einen außergewöhnlichen Mehrzwecksaal – ein überregionales Pilotprojekt.
Für Freizeit und Sport
Geht man vom Ortszentrum mit seinem pittoresken Rathaus den Hang gen Süden Richtung der sogenannten Autobahn der Sonne, der „Autoroute du Soleil“, hinab, durchquert man zunächst ein Wohngebiet mit seinen „Pavillons“, den typischen einfachen Einfamilienhäusern mit Garten und (zu) hohen Begrenzungsmauern, um am tiefsten Punkt des Geländes zu einem malerischen Pinienwäldchen zu gelangen. Es dient in regenreichen Monaten als natürliches Wasserrückhaltebecken und soll demnächst zu einem öffentlichen Park umgestaltet werden. Nicht zuletzt aufgrund des Erfolgs des davor liegenden, neuen Mehrzwecksaals, der dann zusammen mit den Tennisplätzen, dem renovierten, ehemaligen Clubhaus, einem BMX-Feld und weiteren Sportanlagen eine gelungene Einheit bildet.
Architektur mit attraktiver Signalwirkung
Genaugenommen trifft die profane Bezeichnung Mehrzwecksaal nicht annähernd die ästhetische Qualität und die Wirkung, die der Neubau des Ateliers Régis Roudil aus dem benachbarten Aix entfaltet. Dadurch, dass seine langgestreckte, im Innenbereich stützenlose Holzkonstruktion an den Längsseiten beinahe durchgehend mit faltbaren Schiebetüren aus Glas ausgestattet ist, hat man schon von weitem nicht nur einen unbegrenzten Durchblick auf die Tennisplätze, sondern das Gebäude beeindruckt auch durch bemerkenswerte Leichtigkeit. Schon in geschlossenem Zustand fühlt man sich im Inneren dank der filigranen Holzprofile der Glastüren jederzeit behaust inmitten der mediterranen Landschaft. Faltet man die Glastüren an den Seiten zusammen, entsteht eine Art offenes Torhaus mit geradezu „erhabener“ Atmosphäre.
Dieser Eindruck wird durch den 40 cm hohen Sockel verstärkt, auf dem das Gebäude – aus Gründen der örtlichen Überschwemmungsgefahr – wie auf einer Präsentationsfläche aufgestellt zu sein scheint. Weil der Sockel mit einer wesentlich größeren Grundfläche ausgestattet ist als das eigentliche Gebäude, bleibt genügend Platz für eine nahtlos eingepasste, barrierefreie Rampe und umlaufende Terrassen. Die versiegelte Fläche ist auf ein Minimum reduziert. Dazu trägt unter anderem der als Begrenzung gewählte, grobkörnige und deshalb besonders wasserdurchlässige Stein aus Vers-Pont-du-Gard in der weiteren Umgebung von Coudoux bei.
Eine funktionale Konstruktion
Der Grundriss des Neubaus ist leicht nachzuvollziehen. Er besteht aus mehreren Rechtecken (Gesamtnutzungsfläche 85 m²). Vier identische Blöcke (je 5 m²) bilden die Ecken des zentralen Raums (65 m²). Darin sind die Sanitäreinrichtungen, Lager und technische Einrichtungen untergebracht. Darauf liegt das leicht zurückgesetzte Flachdach aus vorgefertigten Kassettenelementen. Diese wurden in regionalen Werkstätten entwickelt und hergestellt, aber erst auf der Baustelle verbunden und montiert.
Die Renaissance der Aleppo-Kiefer
Das gesamte Gebäude 14,70 m (L) x 9,50 m (T) x 4,18 m (H) besteht, bis auf den mit Naturstein umrandeten Betonsockel sowie Teile der Isolation und des Sonnenschutzes, aus Holz. Nicht aus irgendeinem, sondern dem der Aleppokiefer, die in der Region seit Generationen wächst. Dieses Material wurde hier vor langer Zeit zur Konstruktion von Gebäuden verwendet, in der Zwischenzeit allerdings durch andere Materialien verdrängt. Die lokale Industrie ist verschwunden. Die Arbeitsplätze ebenfalls. Für andere Zwecke war es nicht zu verwenden. Und ohne Nachfrage des Marktes waren weitere Auf- forstungen bisher nicht vorgesehen. Denn die Aleppokiefer ist von Natur aus nicht leicht zu nutzen. Sie wächst zum Beispiel nicht verwertungsgerecht, also selten gerade. Und langsam. Sie hat viele Astlöcher und Einschlüsse. Im Endeffekt ist sie, bei geringer Nachfrage auf dem umkämpften Holzmarkt, außerdem teuer. Ein Glück, dass sie wenigstens als Zierpflanze ungebrochen Wirkung erzielt.
Mehrzwecksaal als Pilotprojekt
Gemeinsam mit der Gemeinde als Bauherrin entwickelten die Architekten des beim Bau von Holzhäusern erfahrenen und experimentierfreudigen Ateliers Roudil einen weit über die Entwurfsideen hinausführenden Plan: Dieser Kiefernart sollte in Coudoux wieder eine Chance als Baumaterial gegeben werden. Mit Betrieben aus der Umgebung, Umweltverbänden aber auch verschiedenen Abteilungen französischer Staatsministerien versucht man, langfristig ein wettbewerbsfähiges Gesamtkonzept für dieses auf Regionen konzentrierte ökologische Bauen zu entwickeln, das sich aus der Region speist. Das konkrete Anschauungsobjekt in Coudoux wird diese Sisyphusarbeit möglicherweise erleichtern.
Trotz aller berechtigten Euphorie reichen die wenigen seit der Einweihung vergangenen Monate nicht für eine umfassende Bewertung aus. Ob das spezifische Materialeigenschaften sind (Verharzung) oder Verformungen (dieses Kiefernholz arbeitet trotz Autoklavbehandlung weiter) bis hin zu ästhetischen, bau- rechtlichen oder versicherungstechnischen Fragen: Die Aleppokiefer verlangt noch viel Arbeit.
Fazit
Konsequenterweise hat die Gemeinde in ihren Plan auch das ehemalige Clubgebäude einbezogen. Es wurde als unmittelbarer Nachbar des Neubaus vom Atelier Roudil radikal „entschlackt“. Überflüssige Trennwände und abgehängte Decken wurden entfernt, die Außenwände isoliert und in intensivem Grün gestrichen. Der Gemeinde Coudoux als Auftraggeberin haben die bisherigen Erfahrungen mit dem Bau der Mehrzweckhalle und der Renovierung des ehemaligen Clubhauses schon jetzt ausgereicht, um ein Folgeprojekt mit den Architekten zu besprechen: eine Erweiterung des örtlichen Rathauses – in Holzbauweise.
„Die Beziehung zum Material ist die Grundlage unserer Arbeit, das ethische Gewissen bestimmt unser Handeln.“
Régis Roudil, Atelier Régis Roudil Architectes
Mehrzwecksaal von Coudoux, Atelier Régis Roudil Architectes
Architekten
Atelier Régis Roudil Architectes
Atelier Régis Roudil Architectes, Place Romée de Villeneuve, Le Mansard A – 13090 Aix-en-Provence
Ist ein Architekturbüro in der französischen Universitätsstadt Aix-en-Provence, das öffentliche und private Projekte in unterschiedlichen Maßstäben realisiert. Weitere Schwerpunkte liegen auf den Bereichen Stadtplanung, Szenografie, Sanierung und Innenein- richtung. Gründer Régis Roudil ist seit 2014 auch als Dozent an der École d´Architecture de Marseille tätig.
Projekte
2022 Kinderkrippe Palais de l’Alma, Paris
2022 8 soziale Übergangswohnungen, Gignac-la-Nerthe (FR)
2020 Weinkellerei les Davids, Viens (FR)